Barbara

Datum: 01.07.2021

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Gefühlte Wahrheit

Nur weil jemand kompetent wirkt, muss er oder sie es nicht sein. Aber wir lassen uns eben leicht täuschen. Woran das liegt und wie Betrüger manipulieren, weiß Kriminalpsychologin Lydia Benecke

Frau Benecke, Sie arbeiten in einer Vollzugsanstalt mit rückfallgefährdeten und persönlichkeitsgestörten Straftätern. Wo genau?
Das verrate ich Ihnen gern, aber das dürfen Sie nicht schreiben. Doch ich freue mich, dass Sie fragen.

Warum freut Sie das?
Ehrlich gesagt bin ich schockiert darüber, dass meiner Erfahrung nach Journalisten nicht mal meine Biografie prüfen. Das hat mich vor allem am Anfang überrascht. Nur weil jemand in der Expertendatenbank auftaucht, heißt das ja nicht, dass er oder sie wirklich Fachwissen hat. Ich würde erwarten, dass Sie bei meinem Chef nachfragen: Ist es richtig, dass die Frau Benecke bei Ihnen arbeitet?

Jetzt machen Sie mich misstrauisch. Aber man will ja niemandem betrügerische Absichten unterstellen.
Weil man meint, das könnte unhöflich und respektlos wirken. Aber wenn jemand nichts zu verbergen hat, dann wird diese Person kein Problem damit haben, Qualifikation und Berufserfahrung zu nennen. Es ist okay, Menschen zu hinterfragen. Nicht nur als Journalistin.

Ich hätte Ihnen jetzt vertraut …
Ja, weil Sie sich, wie viele Menschen, auf Ihr Bauchgefühl verlassen. Doch jedes Bauchgefühl ist beeinflussbar. Dazu kommt: Je sympathischer uns eine Person ist, desto weniger stellen wir sie infrage. Ich bin immer wieder erstaunt, wie irrational Menschen sind. Wir sagen gern, unser Bauch-gefühl habe uns noch nie getäuscht. Das ist aber eine Kombination aus selektiver Wahrnehmung und Erinnerungsverzerrung. So, wie wir im Alter meinen, dass früher alles besser war. Bitte hören Sie niemals auf ihr Bauchgefühl!

Nettigkeit sollte mich also grundsätzlich misstrauisch machen?
Nicht prinzipiell. Aber Hochstapler und Betrüger haben die Fähigkeit, Emotionen zu manipulieren. Sie verteilen Komplimente, geben uns ein gutes Gefühl. Das ist wichtiger, als Fakten zu fälschen. Selbst wenn Unstimmigkeiten auftauchen, passen wir diese unbewusst dem positiven Eindruck an. Wir würden also im Zweifelsfall sagen: Ach, es gibt bestimmt eine vernünftige Erklärung. Wir neigen dazu, die Lügen zu glauben. Auch ich bin schon auf einen Hochstapler hereingefallen …

Was, Sie?!
Zu meiner Verteidigung: Ich war 20 und hatte gerade erst mit dem Psychologiestudium angefangen. Ich hatte keine Lebenserfahrung und habe mich von dieser Person – beruflich wie privat – leicht beeindrucken lassen. Ich behaupte mal, dass mir das heute nicht mehr passieren würde.

Wer wird eigentlich zum Hochstapler und Betrüger?
Menschen, die für etwas anerkannt werden möchten, was sie auf einem vernünftigen – also ehrlichen – Weg nicht hinbekommen. Entweder weil sie es nicht können oder zu wenig Energie investiert haben. Es sind meist Personen, die sehr von sich überzeugt sind und gleichzeitig unbedingt beeindrucken wollen, sei es durch materielle Güter, Leistungen oder einen bestimmten gesellschaftlichen Status. Dem liegt häufig eine narzisstische Persönlichkeitsstruktur zugrunde, die unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann.

Haben Sie ein Beispiel?
Es gibt einen Schweden, der als Pilot international geflogen ist, obwohl er keinerlei Zulassung hatte. Die Ausbildung ist sehr teuer, er kam aus eher einfachen Verhältnissen und konnte sie sich nicht leisten.

Wie hat er es geschafft, trotzdem Pilot zu werden?
Zunächst nahm er nur ein paar Stunden im Flugsimulator. Dabei merkte er, dass niemand so wirklich hinterfragt, ob er eigentlich Pilot ist. Dann fälschte er – eher schlecht – eine Lizenz. Der Mann war selbst ganz überrascht, dass er damit seinen ersten Job bekam. Danach war es ein Selbstläufer. Er hat sich mit den Referenzen der ersten Airline bei der zweiten und dritten beworben – und Karriere gemacht.

Wie ist er aufgeflogen?
Bei den regelmäßigen Prüfungen der Unterlagen stellte irgendwann jemand fest, dass was nicht stimmte. Er wurde genauer überprüft – ein Rechtschreibfehler in der gefälschten Lizenz fiel dabei sofort auf.

Und warum ist ihm vorher keiner auf die Schliche gekommen?
Der Mann hat eine sehr offene, nette Art, die bei Menschen direkt Sympathie und Vertrauen auslöst. Das musste er sich nicht antrainieren, das ist Teil seine Persönlichkeit. Viele narzisstisch strukturierte Menschen sind sehr einnehmend, selbstsicher und charmant. Und egal, ob sie es bewusst wahrnehmen oder nicht – sie merken irgendwann, dass sie damit durchkommen. So ermutigt, gehen sie immer noch einen Schritt weiter.

Was hat der Mann, nachdem man ihn erwischt hatte, zu seiner Verteidigung gesagt?
Als er gefragt wurde, ob er nie darüber nachgedacht hätte, dass er Menschenleben gefährdet habe, sagte er: Ich habe zwar keine Ausbildung, aber ich habe doch bewiesen, dass ich es kann. Hinzu kommt, dass narzisstische Menschen sich auch sehr viel zutrauen. Bei falschen Ärzten, von denen man immer wieder in den Nachrichten liest, ist das natürlich noch viel schlimmer.

Betrüger und notorische Lügner, wie etwa Donald Trump, streiten gern ab, etwas falsch gemacht zu haben – obwohl man sie überführt hat und der Fall offensichtlich ist.
Wenn wir etwas tun, das unseren Moralvorstellungen widerspricht oder von dem wir eigentlich wissen, dass es unvernünftig ist, neigen auch ganz durchschnittliche Menschen dazu, sich das schön zu reden.

Wie zum Beispiel?
Indem sie Begründungen dafür heranziehen, warum das in ihrem Fall nicht schlimm ist. Menschen, die zum Beispiel rauchen, sagen ja gern: Ich weiß, dass das ungesund ist. Aber manche Leute werden doch auch über 100, obwohl sie qualmen wie ein Schlot … Natürlich ist das irrational. Aber alle Menschen haben Mechanismen, die die Realität so verzerren, dass sie im Großen und Ganzen recht unbelastet mit ihren Entscheidungen und Handlungen leben können. Diese Mechanismen helfen uns, ein positives Selbstbild aufrecht zu erhalten.

Rauchen kann man sich so vielleicht schönreden, aber Betrug …
Bei narzisstischen Menschen sind einige dieser Mechanismen übermäßig ausgeprägt. Zeigt man ihnen zum Beispiel ein Video, in dem sie offensichtlich einen Fehler gemacht haben, schaltet das Gehirn sofort um auf Rechtfertigung. Erstens bin ich unfehlbar und zweitens hatte ich ein Recht dazu, das zu tun, weil … Narzissten sind immer der Meinung, dass Regeln für andere Menschen gelten, aber nicht für sie.

Sie haben also Rechtfertigungen, die es ihnen ermöglichen, ihr Gewissen sozusagen auszuschalten.
Ja. Entweder haben Menschen, die sich unsozial verhalten, gute Mechanismen zum Selbstbetrug. Oder sie haben prinzipiell wenig Gewissen, dann brauchen sie auch weniger Rechtfertigung. Es gibt viele Möglichkeiten. Wenn sie sehr egozentrisch sind und sich für den Mittelpunkt des Universums halten – was bei Narzissten häufig so ist – zählen für sie nur ihre Gefühle und Bedürfnisse. Dann fühlt man sich auch nicht besonders schlecht, wenn man andere austrickst.

Steckt denn in uns allen eine betrügerische Neigung?
Die Frage ist: Was brauche ich in meiner Persönlichkeit, um dafür bereit zu sein, jemanden zu betrügen? Jeder würde sich über einen Lottogewinn freuen. Aber wer würde andere emotional oder körperlich schädigen, um dieses Geld zu erhalten? Wir sind soziale Wesen, haben ein eingebautes Mitgefühl und Schuldgefühle. Die meisten Menschen wollen sich nicht für eine unsoziale Tat schlecht fühlen müssen und haben Angst vor den Konsequenzen, die ihnen drohen, wenn sie erwischt werden. In einer unbewussten psychologischen Berechnung müssen die Kosten, die ich zum Beispiel durch mein Gewissen haben würde, deutlich niedriger sein als der positive Kick, den ich mir von diesem Gewinn erhoffe. Alles was wir tun, basiert auf dieser Kosten-Nutzen-Rechnung.

LYDIA BENECKE bringt ihr Wissen auch zu Papier. Im Herbst erscheint ihr Buch „Betrüger, Hochstapler, Blender“