Barbara

Datum: 01.04.2022
Fotos: Verena Brüning

Druckansicht

BARBARA_Taekwondo-1-6241e17823.jpg

Kann jederzeit in Kraft treten

Seit fast 40 Jahren bringt Marina Salewski Mädchen und Frauen bei, sich selbst zu verteidigen. Warum das wichtig ist, bekam unsere Autorin in einer Probestunde zu spüren

Marina Salewski unterbricht das Training: „Wir machen mal besser die Fenster zu, sonst kriegen wir noch Ärger mit den Nachbarn …“ Nachdem alle wieder ihre Stellung eingenommen haben – breiter Stand, Arme seitlich angewinkelt –, hallt die raue Stimme der 66-Jährigen durch den Raum. Ein Kampfschrei, den ich nicht ganz verstehe: „Was sagt sie?“, frage ich die Frau vor mir. „Ich glaube, Kia“, antwortet sie, aber es klingt auch wie eine Frage. Okay, Kia, zwei Silben, das sollte ich hinbekommen. Doch irgendwie wollen die nicht kraftvoll aus meinem Mund kommen. Sie tröpfeln schlapp heraus. Zu Hause kann ich ständig laut werden, aber hier, zwischen den anderen, fällt es mir schwer, zu schreien. Den Frauen, die in zwei Reihen vor mir stehen, geht es ähnlich. Zaghaft echoen sie zurück. „Kinder können gut schreien. Wir Erwachsene haben es verlernt. Aber das bringe ich euch schon wieder bei“, sagt Marina Salewski. Denn: kein Kampfschrei, keine Kraft.

Und um Kraft und Stärke geht es hier an diesem Samstagmorgen in Berlin-Schöneberg. Seit fast
40 Jahren trainiert Marina Salewski, die von allen Joy genannt wird, in der Kampfschule im Hinterhof die Mitglieder des Vereins „Selbstverteidigung für Frauen“, gegründet 1976 aus der feministischen Szene heraus – damit ist der Verein einer der ältesten Europas auf diesem Feld. Das anfängliche Angebot für die mehr als 1000 Kampfsportlerinnen: ein Sammelsurium von japanischem Jiu Jitsu bis zu philippinischem Stockkampf. Durch Streitigkeiten zerbrach der Verein später, und übrig blieb eine kleine Gruppe von circa 40 Frauen, die bis heute Vollkontakt Taekwondo trainieren. Warum ausgerechnet das? Sie habe früher auch mal andere asiatische Kampfstile wie Hapkido und Judo ausprobiert, sagt Joy, aber das ständige Auf-dem-Boden-Rollen habe ihr nicht gefallen. „Ich bin eher Action Jackson. Ich brauche auch mal einen Schrei“, erklärt sie – und spielt damit auf einen Krimi mit viel Körpereinsatz aus den 1980er-Jahren an.

Taekwondo kenne ich von meiner Freundin Beate. Wenn ich früher in Hamburg ausgegangen bin, dann besonders gern mit ihr. Sie ist Trägerin des schwarzen Gurtes. Selbst morgens um drei habe ich an ihrer Seite sorgenfrei die Abkürzung nach Hause durch den Park genommen. Als Basketballerin war ich leider nur gut im Körbe-, nicht im Angreifer-Werfen – und habe mich immer gefragt, wie schnell ich wohl von einer schwachen zu einer starken Vertreterin meines Geschlechts werden könnte. Eine Probestunde wie diese heute wird mich meinem Ziel wohl nicht im Handumdrehen näher bringen.

Zunächst einmal sind wir Anfängerinnen sofort an unseren Sportklamotten zu erkennen – wer schon länger trainiert, trägt einen weißen Anzug, den Dobok, der mehr hermacht als Leggings und Shirt. Außerdem bewegen wir Neulinge uns anders – als würden wir ein unbeholfenes Tänzchen wagen. „Da muss Druck rein“, fordert Joy. Leichter gesagt als getan – wenn man schon froh ist, bei „Fußballentritt vorwärts, Faust – Kopf, Faust – Magen“ alle Gliedmaßen ungefähr zur richtigen Zeit an den richtigen Ort zu führen.

Damit die Abläufe sitzen, wenn sie plötzlich im wahren Leben angewendet werden sollen, müssen sie in Fleisch und Blut übergehen. Mit ruhiger, kräftiger Stimme sagt Joy Kombinationen an: „Gerade links, gerade rechts und dabei die Fäuste abwechselnd wie eine Schraube eindrehen“, zum Beispiel. Bei einem imaginären Angriff von oben sollen wir die Oberarme über den Kopf hochschnellen lassen. Einmal rechts, einmal links … „Hana, dul, set, net“, zählt Joy auf Koreanisch. Insgesamt sind es 50 Wiederholungen. Und ich glaube, am Ende ist mein Oberarm schon zackiger bei der Sache.

Ihren imaginären Gegner stellt sich beim Training wohl jede Frau anders vor. Bei einer Teilnehmerin, die sich einen Selbstverteidigungskurs zu Weihnachten gewünscht hat, ist es ein Unbekannter, der auf dem Nachhauseweg auf sie lauert. Denn wenn die 18-Jährige nachts in Berlin unterwegs ist, beschleicht sie manchmal ein mulmiges Gefühl. Ihre Mutter hat gleich eine Trainings-Zehnerkarte für sich mit gekauft. Gewalterfahrungen haben beide noch nicht gemacht. Meine Töchter sind zwölf und acht Jahre alt. Die Ältere, klein und zierlich, hatte vor ein paar Jahren bereits ein schlechtes Erlebnis, dafür brauchte es kein Nachtleben. Als sie zum ersten Mal an einem Sonntagmorgen allein Brötchen holen wollte, überholte sie auf dem Gehweg vor unserem Haus einen Mann. Der offensichtlich Betrunkene hielt sie fest und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Gewehrt hat sie sich nicht. Auch nicht geschrien. Aber danach viel geweint. Bis heute möchte sie abends lieber von uns bei ihren Freundinnen abgeholt werden.

Ganz andere Gedanken als ich macht sich Zena, die transgender ist, in einem Wohnheim lebt und sagt, dass sie viel Schlimmes hinter sich hat. Seit zwei Jahren trainiert die hennarot gefärbte 46-Jährige im Verein. Fast jeden Samstag, Sonntag und Mittwoch fährt sie eine knappe Stunde zur Kampfsportschule. „Hier lerne ich, mich zu wehren. Die Standardabläufe sind für mich ungefähr schon so automatisiert wie Zähne putzen.“

Die 19-jährige Sophia hat nicht unbedingt Angst vor gewalttätigen Männern, sie kämpft gegen Ärger in der Schule: „Früher habe ich mich nicht gewehrt“, erzählt sie. „Meine Familie hat immer gesagt, dass
ich mich unterordnen muss.“ Doch irgendwann wollte sie nicht mehr das Opfer sein: „Ich widerspreche jetzt auch mal, und die Leute haben Respekt vor mir.“

Manche Frauen kommen auch durch Zufall zum Verein und merken erst dann, wie gut ihnen das Trai-ning tut. Ekaterina hörte die Kampfschreie durch den Hinterhof hallen (übrigens nicht Kia, sondern „Gi“ für Lebensenergie und „hap“ für Vereinigung) und meldete sich für eine Probestunde an. „Ich bin überhaupt nicht sportlich, habe mich aber gleich in Joy verliebt“, sagt die Data-Ingenieurin, die einen blonden Pferdeschwanz trägt und rosa-weiße Socken an den Füßen. Für den gelben Gurt musste sie ein Brett zerschlagen, wovor sie totale Hemmungen hatte: „Aber als ich das geschafft hatte, fühlte ich mich toll.“

Nach dem Training sitzt Joy im Vorraum der Kampfschule auf einem braun gemusterten Polstersofa. Über ihr: mehrere Regale mit aufgereihten Pokalen, und die Wände tapeziert mit Urkunden und Fotografien posierender Kämpfergruppen. Auch ein Porträt ihres Großmeisters Chae ist dabei, der noch heute hier unterrichtet. Als Joy 1981 eine Probestunde im Taekwondo bei ihm in ebendieser Kampfsportschule machte, steckte sie in einer tiefen Krise und wusste, dass sie etwas ändern musste. Damals – man kann es sich beim Anblick dieser präsenten, standfesten Frau kaum vorstellen – sei sie
„ein kleiner Kuscher, eher Kopf runter“ gewesen. Viele Frauen, die herkommen, wollen ebenfalls neu anfangen. Im Selbstverteidigungskurs lernen sie aber eben nicht nur Tritte und Schläge. „Die Frauen und Mädchen sollen Selbstwert, Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstdisziplin gewinnen“, erklärt Joy. Wer aufrecht, stolz und mit festen Schritten durchs Leben gehe, signalisiere: Mit mir kann man nicht alles machen! Und Männer suchen in aller Regel Opfer, keine Gegner. Diese innere Haltung könne man in keinem Basiskurs an zwei Wochenenden erlangen, weiß Joy. Psyche und Körper müssen sich langfristig aufbauen. Und es dauere, bis man eine Situation richtig einschätzen und die Angst überwinden könne. Meine Hoffnung zerplatzt, dass ich mir schnell ein paar Techniken draufschaffe und dann angstfrei, ja fast schon angriffslustig durch die Welt spaziere.

Darum gehe es in erster Linie auch gar nicht, erklärt mir Ekaterina. Nach zweieinhalb Jahren könne
sie sich zwar verteidigen, da ist sie sich sicher. Aber das wäre bei einem Angriff die falsche Reaktion. Und die richtige? Weglaufen! Das predigt auch Joy in ihren Kursen immer wieder: „Wenn ihr könnt, dann rennt. Flucht gehört zur Selbstverteidigung und ist keine Feigheit.“ Aber manchmal, wenn man es nicht vermeiden oder eben nicht fliehen könne, sei es gut, sich auf das verlassen zu können, was man gelernt hat. So wie ein Mädchen aus Joys Anfängerkurs. Männer drängten sie nachts in einen Hausflur, als die 18-Jährige von einer Feier kam. „Zum Glück hatte sie sich einige Fußtritte gemerkt“, sagt Joy – und diese ziemlich treffsicher eingesetzt. Der Überraschungseffekt hat dem Mädchen sicherlich geholfen. Männer erwarten nun mal keine Gegnerin.