Nido

Datum: 03/2017
Fotos: Andy Kania

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„Wenn einem etwas gelungen ist, dann muss man sofort wieder verschwinden“

Eine Hälfte des Elektropop-Duos Yello, Konzeptkünstler, Winzer, Restaurantbesitzer, Rinderfarmer, Großaktionär – und das alles mit Erfolg. Dieter Meier scheint eines der letzten Universalgenies unserer Zeit zu sein. Wie macht der 71-Jährige das bloß?

Herr Meier, schaut man sich Ihren Lebenslauf an, könnte man meinen, alles, was Sie anfangen, wird zum Erfolg: Sie waren Mitglied der Schweizer Golf-Nationalmannschaft, wurden als Konzeptkünstler auf die Documenta eingeladen und haben mit Yello mehr als zwölf Millionen Platten verkauft. Sie besitzen Restaurants, eine Rinderfarm und ein Weingut, sind Großaktionär und zählen zu den 300 reichsten Schweizern. Mit 15 sind Sie aber erst einmal vom Gymnasium geflogen. Warum?
Bis dahin hatte ich eine unglaublich leichte Schulkarriere. Ich bin, ohne viel zu tun, in dieses Gymnasium reingekommen, das damals noch eine Eliteschule war. Doch je größer die Ansprüche wurden, desto schlechter wurde ich. Weil ich dann doch mal die Vokabeln hätte lernen, die mathematischen Formeln kennen müssen. Aber ich hatte nie gelernt zu lernen, damit wollte ich erst anfangen, wenn es mal eng wird.

Und als es eng wurde?
Dann ging das nicht so einfach. Wenn ich allein auf ein Blatt oder ein Buch starren musste, ging mir der Stoff nicht rein. Das war mir zu langweilig.

Wie haben Ihre Eltern reagiert?
Mein Vater fragte mich völlig ruhig, was ich denn nun machen will. Das war eine Besprechung von zehn Minuten.

Und was wollten Sie machen?
Abitur. Es gibt in der Schweiz ein eidgenössisches Abitur. Darauf bereitet man sich allein vor und wird dann von fremden Lehrern geprüft. Und da ich allein nicht lernen konnte, brauchte ich einen Sparringspartner. Mein bester Freund damals war ein unglaublicher Streber und hat gesagt: „Dieter, wenn ich mir beweisen will, dass ich wirklich alles verstanden habe, muss ich in der Lage sein, einem Ignoranten wie dir den Stoff zu erklären.“ So wurde er mein Tutor, und auf Anhieb – ich war gerade erst 18 – habe ich mich durch diese Prüfungen geaalt. Sogar ein Jahr vor meinen ehemaligen Klassenkameraden.

Die entspannte Haltung ihres Vaters hat sich also ausgezahlt. War er immer so?
Ja, mein Bruder und ich hatten das große Glück, dass unsere Eltern nie erzieherische Maßnahmen ergriffen haben. Es war immer ein Vertrauen da, dass alles richtig kommt.

Sie selbst sind Vater von drei Töchtern und einem Sohn im Alter zwischen 20 und 32. Waren Sie mit ihnen strenger?
Nein, gar nicht. Ich glaube, dass Kinder durch erzieherische Worte viel weniger lernen als durch die Art des Daseins der Eltern. Kinder werden letztendlich so wie ihre Eltern. Und Eltern, die zwar streng erziehen, aber selbst schwierig sind, müssen sich nicht wundern, wie ihre Kinder werden: schwierig eben.

Was haben Sie Ihren Kindern vorgelebt?
Dass sie auf sich selbst vertrauen können, dass ein Malheur in Ruhe besprochen wird und dass es Bestrafungen nicht gibt.

Sie haben Ihre Kinder also nie bestraft?
Nein! Schon gar nicht mit physischen Eingriffen, dass wir die Kinder mal irgendwo eingesperrt haben oder sie in der Ecke stehen mussten. Auch ein Klaps war völlig undenkbar. Vielleicht vier, fünf Mal hat man die Contenance verloren, ist laut geworden, aus einer gewissen momentanen Verzweiflung, weil die Kinder etwas Gefährliches gemacht haben.

Sie haben sich früher selbst als Individual-Anarchist bezeichnet. Gab es für Ihre Kinder Regeln und Grenzen?
Wir haben immer große Bandbreiten der Möglichkeiten zugelassen, aber wenn es darüber hinausging, wurden ernsthafte Gespräche geführt.

Zum Beispiel?
Unsere jüngste Tochter hat sich heimlich bei einer Model-Agency angemeldet und wurde „Face of the Year“ in der Schweiz. Sie bekam das Angebot, mit 15 oder 16 nach New York zu gehen. Ich halte eine Modelkarriere für einen jungen Menschen allerdings für sehr problematisch. Also haben wir ihr zugeredet, dass sie erst einmal das Abitur machen soll.

Und es gab keinen Protest?
Sie wollte dann für ein Jahr nach Paris gehen. „Nicht als Model“, haben wir gesagt. Sie hat dann ein Sabbatical genommen und mit einer älteren Freundin dort für ein halbes Jahr zusammengelebt. Als sie zurückkam, hatte sie tatsächlich ein Einsehen, dass es richtig sei, Abitur zu machen. Aber hätten wir da Strenge walten lassen, ihr die Sache verboten und versucht zu erziehen, dann wäre das wohl sehr kontraproduktiv gewesen.

Was haben Sie noch vom Vater gelernt?
Zwei wichtige Dinge. Erstens: Was man beruflich tut, sollte nicht Mittel zum Zweck sein. Wenn man sich überlegt, wie man viel Kohle verdienen oder berühmt werden kann, dann ist das im Grunde genommen Prostitution. Mein Vater, der aus sehr armen Verhältnissen kommt, war ja verrückterweise Bankier. Aber nicht des Geldes wegen. Er hat dieses Spiel mit den Zahlen geliebt und ist nebenbei, was ihm fast schon peinlich war, wohlhabend geworden.

Sie haben also nicht in Saus und Braus gelebt?
Wir sind zwei Brüder und haben mit unseren Eltern in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung gelebt. Da war mein Vater schon ein vermögender Mann. Irgendwann hat meine Mutter dann gesagt, sie hätte gehört, dass er doch in der Bank ganz gut verdienen würde, und vielleicht sollte man mal, weil die Kinder immer größer würden, ein Häuschen kaufen.

Was hat er darauf gesagt?
„Ja, dann mach das mal.“ Und damit war das Thema erledigt. Aber wenn es nach ihm gegangen wäre, da hätten wir weiter in dieser Wohnung gelebt. Er hat auf Äußerlichkeiten absolut nichts gegeben. Es war ihm egal, was die Leute über ihn geredet haben.

Und zweitens?
Wenn einem etwas gelungen ist, dann muss man sofort wieder verschwinden. Das ist wie bei einer Bergbesteigung: Bleibt man auf dem Gipfel stehen, verblödet man oder erfriert.

Sie haben sich nie auf Ihrem Erfolg ausgeruht, immer Neues begonnen, waren viel unterwegs. Obwohl Sie damals vier kleine Kinder zu Hause hatten und eine Frau, die ihre eigene Firma „En Soie“ aufgebaut hat.
Und das war für die Beziehung zwischen mir, den Kindern und meiner Frau Gemahlin völlig in Ordnung. Wir verstehen uns als Wanderzirkus. Es war immer alles in Bewegung, und es gab nie einen Trennungsschmerz. Überhaupt nicht, denn wir waren uns so gewohnt. Und, wie soll ich sagen, die Kinder und meine Frau Gemahlin waren auch gar nicht unglücklich darüber, dass dieser Kerl nicht immer da ist.

Die Familie hat Ihnen Ihre Rastlosigkeit also nie übel genommen?
Nein! Das Zusammensein war immer ein Privileg und nie Routine. Wir haben unsere gemeinsame Zeit unglaublich geschätzt und bewusst genossen.

Wie haben Sie das Familienleben organisiert,
als die Kinder noch ganz klein waren?

Unsere Kinder waren sehr früh, mit ein, zwei Jahren, in einem staatlichen Kinderhort. Auch wenn Verwandte und Bekannte es nicht verstanden, dass wir die Kinder tagsüber „weggaben“. In der Schweiz hat der Hort den Ruf, dass nur arme Leute ihre Kinder dorthin schicken, weil die Frau mitverdienen muss. Tatsächlich lernen die Kinder im Hort schon sehr früh soziale Kompetenz und sind nicht nur auf die Eltern fixiert.

In der Schweiz bleiben viele Frauen nach der Geburt ihrer Kinder zu Hause. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gilt als schwierig – auch weil der Staat sich angeblich zu wenig dafür einsetzt.
Wir haben ein ganz großes Problem in der Schweiz, weil eine reaktionäre Partei meint, die Mutter gehöre an den Herd und müsse bei den Kindern bleiben. Ich aber finde es wichtig, dass die Partnerin, wenn es irgendwie geht, ihren Beruf, ihre Berufung, weiter ausübt. Dass sie ein selbstständiges Leben führt und nicht nur für die Familie da ist. Ich habe oft gesehen, dass es fatale Folgen hat, wenn eine Frau ihr Dasein damit rechtfertigt, dass sie nur noch für die Kinder da ist.

Sie meinen fatale Folgen für die Beziehung?
Ja, weil beide Seiten plötzlich ganz unterschiedliche Leben führen.

Ein Hort hat nicht 24 Stunden am Tag geöffnet. Gab es noch andere Unterstützung?
Wir hatten 20 Jahre lang eine Nanny aus Sri Lanka. Sie heißt Ari und hat Nerven wie Drahtseile und endlose Geduld. Sie war geradezu vernarrt in unsere Kinder. Kleine Kinder sind oft auch anstrengend, aber Ari war nicht aus der Ruhe zu bringen und hat auch das größte Chaos spielerisch gehandhabt.

Hat sie bei Ihnen gewohnt?
Nein, wir hatten nie Angestellte. Die Kinder haben die Ari so geliebt, dass sie oft bei ihr waren und dort auch übernachtet haben. Die Kinder waren glücklich in dieser Wohnung, sie konnten dort alles machen. Wir haben das immer ein Chäferfäscht genannt.

Ein Käferfest?
Ja, so sagt man bei uns, wenn alles drunter und drüber geht. Die Ari hat keinen Aufräumfimmel gehabt. Und dieses liebenswürdige Chaos, das war bei der Ari nicht nur zugelassen, sondern sogar gewünscht.

Und wie sah das typische Familienleben bei Ihnen zu Hause aus?
Das Wichtigste bei uns war das Abendessen. Wir saßen immer mindestens zwei Stunden gemeinsam am Tisch. Er war für uns der große Dorfplatz. Dort wurde über alles gesprochen. Das Essen war dabei eigentlich egal. Aber nicht die Tischdekoration.

Erklären Sie bitte …
Schon als die Kinder noch klein waren, hat immer eines den Job gehabt, den Tisch zu decken und zu dekorieren. Das Resultat war oft urkomisch: Kieselsteine, Spielzeug, Gräser und Zweige lagen auf Tisch und Tellern. Das Wichtigste dabei war, dass wir den Kindern niemals in ihr Werk „reingeredet“ haben.

Warum?
Ich finde es wichtig, dass Kinder schon ganz früh eine Verantwortung übernehmen, die sie natürlich nicht überfordert, die spielerisch ist. Das war in meiner Kindheit auch so.

Was hat man Ihnen zugetraut?
Unsere Mutter hat uns schon sehr früh kochen lassen. Ich kann mich gut erinnern, ich stand da auf einem kleinen Stühlchen am Herd. Ich war spezialisiert auf Braten, der ist ja auch einfach. Und ich konnte Spiegeleier und Omelette.

Wie alt waren Sie da?
Vielleicht fünf oder sechs. Und ich habe mich profiliert, mit Dingen, die in der Erwachsenenwelt geschätzt werden.

Mit was zum Beispiel?
Schuheputzen. Das habe ich auf dem Land bei meinen Großeltern gelernt. Der Weg zu ihrem Häuschen war nicht asphaltiert, der Effekt des Putzens also enorm. Vor allem wenn es geregnet hatte. Und ich war ein unglaublicher Abwascher. Ich habe das schon sehr früh perfektioniert. Bis zum heutigen Tag bin ich bei Essen bis zu 20 Personen schneller als jede Spülmaschine. Und unter ökologischen Aspekten ist die Abwaschmaschine ja eh ein Blödsinn.

Ihre Kinder wohnen inzwischen nicht mehr bei Ihnen im Haus. Wer steckt wo?
Zwei meiner Töchter haben Häuser in Los Angeles, wo wir auch seit Langem eine Villa besitzen. Eine Tochter leitet die Firma meiner Frau in Zürich mit. Der Sohn ist gerade ein halbes Jahr in Südamerika unterwegs. Und meine Frau Gemahlin ist immer mal wieder für ein paar Wochen auf Ibiza. Unser Wanderzirkus-Dasein geht weiter.

Sind Sie rückblickend zufrieden mit sich als Vater? Oder gibt es etwas, das Sie heute anders machen würden?
Rückblickend hätte ich gern gelernt, was es heißt, die ultimative Verantwortung für jemanden zu haben. Natürlich war ich auch vorhanden, aber der Chef von den Kindern war ganz klar meine Frau Gemahlin.

Wie würden Sie die Beziehung zu Ihren Kindern beschreiben?
Wir machen uns auf eine liebenswürdige Art gern übereinander lustig.

Sie sind für Ihre Fähigkeit zur Selbstironie bekannt, dafür, dass Sie sich nicht so wichtig nehmen. Leben Ihre Kinder Ihnen diese Einstellung nach?
Ja, auf jeden Fall. Ich habe bereits vor Jahren gesagt: „Life is a holiday from being dead.“ Was weiß ich schon. Und wir alle nehmen uns gegenseitig nicht im Übermaß ernst. Die Kinder nehmen mich nicht ernst. Sie haben auch schon sehr früh Dieter zu mir gesagt.

Dass Sie eine prominente Person sind, das war den Kindern, als sie klein waren, aber schon klar, oder?
Ja, das war manchmal schwierig. Die Kinder wären natürlich am liebsten völlig anonym gewesen, aber dann stehen da irgendwelche Dinge in der Zeitung, auch über Geld. Mit den Lehrern haben wir das thematisiert, und sie haben solche Dinge immer gut aufgefangen, sodass die Kinder eigentlich nie gemobbt wurden. Aber manchmal hat es den Kindern einfach nicht gepasst, dass der Alte so ein bunter Hund ist.