www.sandrawinkler.de / Ganz schön jung / 2024-04-27 00:10:24
Für eine Eins in Mathe gibt es zur Belohnung eine Massage. Dem Bruder lange nicht mehr an den Haaren gezogen - da hat sich die Kleine eine Maniküre verdient. Und wer seinen Teller leer ißt, bekommt ein Henna-Tattoo, wie es auch Madonna trägt. Kinder-Wellness ist die neue Freizeitbeschäftigung der verwöhnten kleinen Amerikaner. Nach dem Motto: Was für die Großen gut ist, kann dem Nachwuchs nicht schaden, wird gesaunt, manikürt und massiert, was das Portemonnaie der Eltern hergibt. Sogar Kindergeburtstage feiern Mädchen mit ihren Freundinnen bereits in "Day Spas" und "Wellness Resorts" - zwischen Gesichtsbehandlung und Pediküre werden die Kerzen auf dem Kuchen ausgeblasen.
Auch das im Mai eröffnete "Spahhht" im Hyatt Regency Hill Country Resort & Spa am Rande von San Antonio in Texas ist ein riesiger Erfolg: Mehr als 700 Mädchen und Jungen, allesamt jünger als 17 Jahre, haben sich im ersten Monat die weißen Bademäntel des Kinder-Spas übergeworfen, um sich mit glitzerndem Nagellack oder einer 25 Minuten langen Gesichtsmassage verwöhnen zu lassen. Im Gegensatz zu den Eltern, die ihre Behandlungen in eher schlicht gehaltenen Räumen genießen, tummelt sich der Nachwuchs in den knallbunt gestrichenen Kinderzimmern des "Spahhht", wo statt sphärischer Klänge Diskomusik läuft. Ähnliche Programme hat die Hyatt-Hotelkette jetzt in acht weiteren Häusern in Amerika gestartet.
Für die etwas Älteren bietet das "Seventeen.studio.spa.salon" im texanischen Plano Aknebehandlungen, Haarstyling, Augenbraunzupfen, Schmink-Tips und Massagen an. Auch die ersten feinen Härchen unter den Armen und an den Beinen werden dort mit Wachs entfernt. Und wenn im nächsten Januar das riesige "Loews Coronado Bay Resort" im kalifornischen San Diego öffnet, wird es natürlich auch dort einen Teen-Spa geben: Haare färben, Fitneßkurse und eine eigene Hautpflegelinie für Kinder und Jugendliche sind geplant.
20 Milliarden Dollar im Jahr geben amerikanische Teenager für Gesundheitsund Schönheitsprodukte aus. Und die Phase, in der Mädchen lieber vor dem Spiegel als über ihren Hausarbeiten sitzen, beginnt - wie die Pubertät - immer früher. Kein Wunder also, daß die 10 000 Spas in Amerika gute Geschäfte wittern.
Mit der üblichen Verzögerung steigt auch in Deutschland das Interesse an Kinder-Wellness. "Eine furchtbare Entwicklung" nennt das Dr. Christoph Kampmann, Chefarzt der Kinderklinik der Universität Mainz: "So werden aus Kindern Extremindividualisten mit Upperclass-Mentalität geformt, die sich nur noch selbst betrachten." Kampmann fragt sich außerdem, was mit einer Massage bei Jungen und Mädchen überhaupt erreicht werden solle - zu Muskelverspannungen sei der Körper in diesem Alter jedenfalls noch gar nicht fähig.
Elke Ertlschweiger, Masseurmeisterin im "Familien-Wellnesshotel" Dilly in Oberösterreich, sieht das weniger unter medizinischen als unter Wohlfühl-Aspekten: "Jeder Mensch mag es, berührt zu werden. Weil die Eltern aber manchmal keine Zeit haben, gehen viele Kinder eben zur Massage." Mit anderen Worten: Wer keine Zeit hat, sein Kind zu streicheln, der kann ihm wenigstens professionelle Zärtlichkeit außer Haus organisieren. Von sechs Jahren an werden die Kleinen im Hotel Dilly massiert.
Noch früher legt Alexander Kirchler Hand an: Der Leiter der ayurvedischen Abteilung im Hotel Mirabell, einem Vier-Sterne-Haus in Südtirol, macht bereits bei Vierjährigen die Iris- und Zungendiagnostik - eine Art ayurvedisches Check-up. Passend zum Typ wird dann mit warmen Öl massiert: Der "ruhelose Vata" bekommt Sesam, der "aufbrausende Pitta" Kokos und beim trägen und meist übergewichtigen "Kapha"-Kind soll Senf-Öl den Stoffwechsel in Gang bringen. "Rein energetische Massagen" seien das, behauptet Kirchler.
Mütter (und Frauen die es werden möchten) werden im Mirabell besonders umsorgt - von den "Ich will schwanger werden"-Behandlungen über Anwendungen für Schwangere bis hin zu den "Mutter-Kind-Paketen" ist alles buchbar. Und sobald der Bauchnabel verheilt ist, kann auch schon mit einer sanften Massage beim Neugeborenen begonnen werden. "Bei Babys hilft so etwas Wunder", sagt Kirchler - angeblich schlafen danach selbst besonders ruhelose Geschöpfe durch.
In Deutschland gehört das Hotel Esplanade im brandenburgischen Bad Saarow zu den ersten Einrichtungen, die gezielt "Kinder-Wellness" anbieten. Und schon kurz nach der Eröffnung im April dieses Jahres war klar: Unter mangelndem Interesse wird man nicht zu leiden haben. Seither brummt das Geschäft mit Teilkörper- und Kopfhautmassagen für Kinder, die in der Schule viel um die Ohren haben, oder mit Make-up für Mädchen von neun Jahren an. Und das Tiefenentspannungsbecken mit Salzwasser, Unterwassermusik und Farbspielen soll genau wie Kamillen- und Melissenbäder beruhigend auf die junge Kundschaft wirken.
Die Urform der deutschen "Kinder-Wellness" wurde allerdings in der DDR praktiziert. Schon vor zwanzig Jahren stellten dort Erzieherinnen Schüsseln mit Wasser auf und ließen ihre Kleinen nach den Lehren des Pfarrers Kneipp und dem Leitsatz der heutigen Spas (Salus per aquam - Gesundheit durch Wasser) darin waten. Die positive Wirkung auf das Immunsystem ist unumstritten: Selbst anfällige Kinder werden seltener krank und kämen auch nicht so häufig mit dem typischen "Kita-Rotz" nach Haus, wie Iris Aethner, die Leiterin der Berliner Kneipp-Kindertagesstätte "Zwergenland", berichtet. Waschungen, kalte Güsse, Bürstenmassagen und Freiluftschlafen gehören zur täglichen Prozedur. Außerdem wird einmal in der Woche in der Sauna geschwitzt. Und kündigt sich dennoch eine Erkältung an, gibt es Umschläge. Im vergangenen Jahr hat das "Zwergenland" sein Zertifikat vom Kneipp-Bund erhalten und ist damit die achtzehnte Kita dieser Art in Deutschland. Die Plätze sind für die nächsten drei Jahre schon komplett vergeben - was nicht verwunderlich ist, denn trotz des aufwendigen Gesundheits-Services ist der Kindergarten nicht teurer als andere.
Anders als den Kneipp-Kitas geht es den kommerziellen Anbietern von "Kinder-Wellness" natürlich einzig und allein ums Geld: "Baby Business" nennt Peter Wippermann, Leiter des Hamburger Trendbüros, die Bestrebungen, aus dem Gemüts- und Gesundheitszustand der Windelträger (und ihrer Eltern) Profit zu schlagen. In zwei Jahren werde man sich auch in Deutschland an den Anblick von kleinen Jungs und Mädchen auf Massageliegen und bei der Maniküre gewöhnt haben, glaubt Wippermann. Dabei stammt der Begriff Wellness ursprünglich aus dem arbeitsmedizinischen Bereich. Sinn und Zweck: Sich verwöhnen lassen, um dann wieder Leistung bringen zu können. "Man drückt die Kinder in eine erwachsene Welt", fürchtet der Hamburger Trendforscher, der selbst Vater einer kleinen Tochter ist.
Dabei wäre eine vernünftige Gesundheits-Erziehung in frühen Jahren durchaus angebracht: Fast ein Drittel aller Dritt- und Viertklässler schlafen mehrere Male in der Woche schlecht, so das Ergebnis einer Studie. 17 Prozent haben häufig keinen Appetit, ebenso viele leiden unter Kopfschmerzen und gut jeder zehnte unter Bauchweh. Aber anstatt sich wie Erwachsene massieren zu lassen, sollten Kinder aus Medizinersicht lieber auf Bäume klettern und im Freien herumtoben. Das verhindert nämlich zuverlässig Haltungsschäden, reguliert den Appetit und sorgt für einen guten Schlaf.
Ebenfalls bewährt hat sich gerade auch im Kindesalter - Yoga. Und zwar besonders als Therapie gegen das weitverbreitete Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS), das üblicherweise mit dem mittlerweile in Verruf geratenen Medikament Ritalin behandelt wird. "Yoga-Übungen helfen zappeligen Kindern dabei, Streß zu kompensieren", sagt Kumud Schramm vom Bundesverband der Yogalehrenden in Deutschland. In Italien gibt es Yoga mittlerweile sogar als Schulfach. Übungen wie "Kerze", "Fisch" und "Pflug" sind allerdings nichts für Kinder, weil sie die Hormonproduktion fördern und eine frühzeitige Pubertät auslösen können. Dabei endet die Kindheit doch schon früh genug.
© Sandra Winkler
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 24. August 2003