www.sandrawinkler.de / Nase im Wind / 2024-04-19 04:29:01
Man mag gar nicht hinschauen: Mit aller Kraft versuchen zwei Frauen, eine ältere, leicht übergewichtige Dame auf den Rücken eines Pferdes zu hieven. Während die eine von unten schiebt, zieht die andere oben. Auch ein herangeholter Kasten bietet keine Aufstiegschance. Das Zerren und Drücken geht noch minutenlang, und man weiß nicht, mit wem man mehr Mitleid haben soll: mit der Frau oder dem Pferd.
Aber dem Tier scheint das alles wenig auszumachen. Als hätte man es am Boden festgeklebt, bewegt es keinen Huf. Der Wind bläst ihm entgegen, Regen tropft aus seiner dicken, zerzausten Mähne, die ihm über die Augen hängt. So kann es sich das Elend auf seinem Rücken wenigstens nicht ansehen. Endlich sitzt die Reiterin im Sattel. Das Pony schüttelt kurz den Kopf. Es kann losgehen.
Wer auf Island reiten geht, lernt schnell drei Dinge: Geritten wird bei jedem Wetter. Islandponys sind größer, als man denkt. Und drittens: Sie sind die geduldigsten und gutmütigsten Tiere der Welt.
„Sie schlagen nicht aus. Sie beißen nicht. Nicht einmal groß striegeln muss man sie. Die kommen direkt von der Weide unter den Po“, sagt Caroline Alden. Sie arbeitet seit drei Jahren als Hufschmiedin und Tourguide für Eldhestar, ein Hotel mit Pferdefarm. Während in Reykjavík immer noch auf dem Ruf als der Stadt als Partyhochburg herumgeritten wird, kann man eine halbe Autostunde von Islands Hauptstadt entfernt erleben, was den Isländern neben Bier und Schrammelrock wichtig ist: die Natur – und ihre Pferde.
Island ist eine pferdeverrückte Insel. Reiten ist hier nicht nur das Hobby kleiner Mädchen, die „Wendy“ lesen und Pferdeposter an die Wand kleben. Auf die gerade mal 316 000 Isländer kommen etwa 75 000 Islandpferde, die einzige Rasse auf der Insel, und wer eins von ihnen als Pony bezeichnet, muss mit bösen Blicken des Besitzers rechnen. Denn auch wenn die Tiere vom Wuchs recht klein sind, ihr Mut und ihre Ausdauer sind riesig.
Ohne ihre Pferde, sagt man, hätten die Wikinger die froststarre Insel, die einsam im Nordatlantik unter dem Polarkreis liegt, nicht besiedeln können. Als die Nordmänner auf der Flucht vor dem norwegischen König Schönhaar um das Jahr 870 das bis dahin nur von ein paar Eremiten bewohnte Eiland betraten, brachten sie norwegische Fjordpferde und keltische Ponys mit. Diese trugen ihre Besitzer mit deren Hab und Gut durch reißende Gletscherflüsse und wasserlose Steinwüsten. Sie brachten Hebammen über Gletscher zu entlegenen Fjorden oder schleppten wertvolles Treibholz, Kirchenbänke, sogar ganze Boote – und zuletzt den Sarg zum Grab. In alten Sagen ist neben den Göttern selbst der Tod beritten, und ihr erstes Düsenflugzeug tauften die Isländer dankbar „Gullfaxi“: Goldmähne.
Die raue Natur hat die Wikingerpferde kräftig, robust, schnell und ausdauernd gemacht. „Weatherproof“ nennt das Caroline, während wir im Hot Pot liegen und die tapferen Rösser dabei beobachten, wie sie sich gegen den Wind stemmen. Der Hot Pot, ein Becken mit heißem Thermalwasser, ist den Isländern so heilig wie den Finnen ihre Sauna – und bei Temperaturen, die selbst im Sommer nur zwischen 10 und 15 Grad liegen, unverzichtbar.
Hinter uns liegt der erste Ausritt. Von der Farm ging es hinein in eine Vulkanlandschaft aus schneebedeckten Tafelbergen, weiten Wiesen und von Moosen und Gräsern überwucherten Lavafeldern, die aussehen wie dunkler Streuselkuchen mit grünem Puderzucker. Die Pferde kämpften sich durch Flüsse und stampften über Geröll. Sind arabische Vollblüter mit ihren sehnigen Körpern und schlanken Fesseln die schnittigen Rennautos unter den Pferden, kommen Islandponys einem SUV gleich: geländegängig, breit (man sitzt wie auf einem Sessel), unaufhaltbar. Zudem haben sie zwei Gänge mehr als andere Pferde. Zum Schritt, Trab und Galopp kommen Tölt und Rennpass. Wobei Letzterer nur für Reitprofis interessant ist. Doch der Tölt hilft dem Laien. „Feel the Tölt“, hatte uns Caroline zugerufen: Zügel nach oben ziehen und schnalzen. Während die Pferdebeine unter einem wie bei einem Tausendfüßler hektisch zu trippeln beginnen, bleibt oben alles ruhig. Nahezu erschütterungsfrei geht es bis ins Renntempo. Nicht einmal aufstehen muss der Reiter. „Die Pferde haben ein breites Kreuz. Die merken das gar nicht“, sagt Caroline.
Nur einen kleinen Nachteil haben auch die „parfasti pjonninn“, die nützlichsten Diener, wie sie die Isländer nennen: Erwachsene können einfach keine gute Figur darauf machen. Nicht wie ein edler Ritter hoch zu Ross, sondern wie ein Koloss auf einem zotteligen Miniaturpferd sieht man aus. Der Tölt wirkt wie eine lustige Zirkusnummer.
Dafür kommt man mit einem Islandpony fast überallhin. Und das Schönste – auf Island darf man auch überallhin: 90 Prozent der größten Vulkaninsel der Welt sind Wildnis. Die fängt direkt hinter Reykjavík an, wo fast zwei Drittel der Bevölkerung wohnen. Keine befahrbaren Flüsse, kein Schienennetz, nur wenige Bäume. Und auch wenn die Bezeichnung Mondlandschaft abgegriffen ist, hier passt sie. 1965 schickte die amerikanische Weltraumbehörde NASA Crewmitglieder der Apollo-Flüge zu einer Art Praktikum nach Island.
Während Anfänger sich in der Umgebung von Eldhestar austoben, gibt es für Fortgeschrittene Ausritte über mehrere Tage. Zum Beispiel zu den Gletschern ins Hochland, zu heißen Quellen oder entlang dem Golden Circle: Islands berühmteste Sehenswürdigkeiten wie der Wasserfall Gullfoss, der Große Geysir, Namensgeber aller heißen Wasserfontänen der Welt, und sein kleiner, aber aktiverer Nachbar Strokkur liegen günstigerweise in einem Kreis nah beieinander.
Eine der schönsten Gegenden Islands, nicht nur zum Reiten, ist Snæfellsnes im Westen. Die Landzunge könnte ein Island-Themenpark sein, denn sie vereint alle Reize der Insel auf kleiner Fläche: lang gezogene Sandstrände, Steilküste mit bizarren Lavaformationen, Wasserfälle, die aus zerfurchten Bergrücken rauschen. Über allem thront der Gletschervulkan Snæfellsjökull, den schon Jules Verne so faszinierend fand, dass er seine „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ dort beginnen ließ.
Eine andere Sehenswürdigkeit ist das Búðir, eines der besten Hotels Islands mit 28 elegant skandinavisch eingerichteten Zimmern und einem erstklassigen Restaurant. Das weiße Haus steht inmitten moosiger Lavafelder, mit Blick auf das Meer und den Gletscher. Ein einsamer Ort. Neben dem Hotel gibt es hier nur eine einzelne Holzkirche, sonst weit und breit nichts. Genug Raum, um den Kopf mal richtig freizubekommen.
Auf dem dreistündigen Weg nach Snæfellsnes fahren wir zuerst durch eine Nebelwand, dann zieht ein Sturm auf, der uns fast von der Straße weht, kurz scheint die Sonne, bevor ein Hagelschauer niederprasselt. Und das im Mai! Das Wetter ändert sich hier innerhalb von Minuten. Nur der Regen ist mit durchschnittlich 213 Tagen im Jahr zuverlässig. Kurzum: Island ist alles andere als lieblich. Das Land aus Feuer und Eis, dramatischen Himmeln und windzerzausten Gräsern muss man sich erarbeiten. Wer laue Luft und sanfte Hügel will, sollte besser in die Toskana fahren.
Als wir mit unserer Reitlehrerin Franziska Kopf am Strand von Búðir entlangtölten, ist der Himmel blau, und die Sonne strahlt. Franziska kommt aus Freiburg und lebt seit einem Jahr auf dem Gestüt Lýsuhóll, im Haus der Besitzer Jóhanna Ásgeirsdóttir und Agnar Gestsson. „Ich wollte schon als Kind nach Island. Wegen der Pferde, aber auch wegen der Menschen“, sagt sie. Die seien genauso eigenwillig und entspannt wie ihre Tiere. Das Wetter zum Beispiel sei schlichtweg nie Thema. Nie sehe man einen Isländer mit hochgezogenen Schultern, angewidertem Gesichtsausdruck und schnellen Schrittes durch den Regen eilen. Ohne mit der Wimper zu zucken, zahlten die Einheimischen sieben Euro für ein Bier, und Termine seien immer nur Richtwerte. „Das ist für eine Deutsche manchmal ganz schön anstrengend“, sagt Franziska. Auf Island kann man in Sachen Gelassenheit einfach viel lernen. Nicht nur von den Pferden.
© Sandra Winkler
Vanity Fair 29/08
Fotos: Len Jenschel & Diane Cook, Sandra Winkler