www.sandrawinkler.de / Nur zu Ihrer Sicherheit / 2025-05-17 05:42:02
Seit fünf Minuten redet die Kontrolleurin am Münchner Flughafen auf den aufgebrachten Mann aus Indien ein. Nein, er könne seine vier Flaschen Johnny Walker Black Label und den Martell-Cognac wirklich nicht mit durch die Sicherheitsschleuse nehmen. Und es helfe auch nicht, wenn er ihr noch einmal die Quittung vom Duty-free-Shop in Dubai zeige.
Als seine Gesichtsfarbe ins Rötliche zu changieren beginnt, seine Stimme immer deutlicher aus dem allgemeinen Gemurmel am Flughafen hervortritt, übernimmt ein Bundespolizist den widerspenstigen Fluggast – und die Spirituosen im Wert von ungefähr 150 Euro landen in einer großen schwarzen Mülltonne. Schimpfend stapft der Mann zu seinem Flugsteig.
Seit Passagiere Flüssigkeiten nur noch in kleinen Mengen mit an Bord eines Flugzeugs nehmen dürfen, mag in der Luft für mehr Sicherheit gesorgt sein. Für das Bodenpersonal ist das Leben seit Einführung der Regelungen vor sechs Wochen gefährlicher geworden.
„In den letzten Wochen hat es ein paar extreme Vorfälle gegeben“, sagt Rolf Oberndörfer, Leiter der Luftsicherheitsstelle in München. Ein Kontrolleur sei in den vergangenen Tagen mit Wasser begossen worden. Seinen Kollegen verfehlte ein aus Wut geworfener Parfümflakon nur knapp. Zuletzt habe eine Angestellte der Sicherheitsfirma SGM sogar eine Backpfeife bekommen. „Wenn wir auch noch alle verbalen Beleidigungen anzeigen würden, hätten wir viel zu tun.“
Der Höhepunkt demonstrativer Meinungsäußerung dürfte der Auftritt eines russischen Passagiers gewesen sein: Weil der Mann aus Moskau seine Flasche Whisky am Münchner Flughafen nicht abgeben wollte, trank er sie kurzerhand leer. Kaum war der Alkohol im Russen, verschaffte dieser sich Erleichterung und pinkelte an den Lufthansa-Schalter. Eine Anzeige der Fluggesellschaft und der verpasste Flug kümmerten ihn offenbar wenig.
Aufgebrachte Fluggäste, gestresste Kontrolleure – dabei klangen die neuen Sicherheitsbestimmungen doch zunächst recht simpel und wurden von Branchenvertretern als „pragmatische Lösung“ gewertet. Nachdem im vergangenen August britische Muslime Anschläge auf Flugzeuge mit Flüssigsprengstoff geplant haben sollen, beschloss die Europäische Union, die Mitnahme von flüssigen oder gelartigen Stoffen im Handgepäck ab 6. November zu begrenzen. Auf Flügen, die in der EU, Norwegen, Island und der Schweiz starten, dürfen seitdem Zahnpasta, Rasierschaum oder Faltencreme nur noch in kleinen Portionen, nicht größer als 100 Milliliter, mitgenommen werden. Alle zusammen müssen in einen Ein-Liter-Plastikbeutel passen (siehe Kasten).
Trotzdem sorgt die Trockenlegung an Bord nun für Ärger. Nicht nur EU-Passagiere sind mit dem Eintüten ihrer Flüssigkeiten zum Teil überfordert. Wer aus einem Nicht-EU-Land kommt, hat meist keine Ahnung von der neuen Regelung, muss sich aber, wenn er etwa in München oder Frankfurt umsteigt, trotzdem an sie halten. Zudem weiß kaum jemand, dass flüssige Duty-free-Ware aus Übersee auf EU-Flügen nur begrenzt mit ins Handgepäck darf.
Marijan Kunina aus Kroatien mit Weiterflug nach Prag ist nicht nur überrascht, sondern entrüstet, als man ihn am Münchner Flughafen bittet, sein Aftershave in den Müll zu werfen: Im Duty-free-Shop in Zagreb habe man ihm extra versichert, es sei kein Problem, die Flakons mitzunehmen. Kontrolleur Dirk Paprosch wundert das wenig: „Warum sollten sich die Läden auch das Geschäft kaputt machen?“
Natürlich könnte der ältere Herr seine Flakons noch am Schalter einchecken. Doch zumeist ist, gerade für Umsteiger, die Zeit dafür zu knapp, ein passender Karton müsste obendrein zur Hand sein. Und wer will schon seinen Flug für ein Aftershave verpassen? Lagerfeld landet in der Tonne.
Regelmäßig kommen Männer in dunkelblauen Overalls und holen die zum Teil randvollen Behälter ab. Eine Versteigerung der am Boden gebliebenen Flüssigkeiten ist aus zollrechtlichen Gründen nicht möglich. Das Verschenken zu risikoreich. „Schließlich können wir nicht mit Sicherheit sagen, was sich in den Flaschen befindet“, sagt Oberndörfer. Vielleicht ist der vermeintliche Alkohol ein Gift, oder im Parfümflakon steckt Säure. Deshalb landet alles im Sondermüll.
Die Logik hinter der Wegwerf-Strategie ist von den Kontrolleuren und Polizisten schwer zu vermitteln. Engagierte Ordnungshüter versuchen zu erklären, die Ware sei von einem sogenannten unsauberen Flughafen und entspreche nicht den einheitlichen EU-Sicherheitsstandards im Duty-free-Bereich. Wer es sich einfach macht, sagt den meistgehörten Satz an europäischen Flughäfen dieser Tage: „So sind nun mal die EU-Richtlinien.“
Ob diese wirklich für mehr Sicherheit sorgen, fragt sich nicht nur so mancher Flugpassagier. Auch Experten haben ihre Zweifel. So kritisierte die Gewerkschaft der Polizei die neuen Vorschriften bereits bei ihrer Einführung als „Beruhigungspille“. Ein Flugbegleiter am Münchner Flughafen sieht keinen Sinn in der Mengenbegrenzung: „Da können sich doch auch fünf Terroristen an der Bordtoilette treffen und ihre Flüssigkeiten dort zusammenmischen.“
Sprengstoff-Experte Thomas Keicher vom Fraunhofer-Institut für chemische Technologie beurteilt die neuen Bestimmungen für Handgepäck positiver: „Sie erschweren es sicherlich beträchtlich, gefährliche Substanzen an Bord zu bringen. Aber eine hundertprozentige Sicherheit lässt sich wahrscheinlich nicht erreichen.“ Zwar wurde Anfang der Woche in München bei einem Mann eine mit Zünder versehene Gaskartusche im Handgepäck gefunden. Insgesamt aber werden rund 30 Prozent aller geschmuggelten Waffen nicht entdeckt. Das ergab eine Überprüfung der Kontrolleure in Frankfurt.
Noch in den 80er-Jahren löste die Aufforderung, auch nur den Mantel bei der Kontrolle abzulegen, einen Sturm der Entrüstung bei den Fluggästen aus. „Kurz nach dem 11. September hätte man die Passagiere nackt ausziehen können, und es hätte keiner protestiert“, erinnert sich Oberndörfer. Heute pilgern die meisten Fluggäste immerhin ohne Murren auf Socken und ohne Gürtel durch die Sicherheitsschleuse.
Das neue Plastiktütchen macht ihnen da mehr Probleme. Obwohl seit dem 6. November am Münchner Flughafen täglich rund 40 Kontrolleure zusätzlich im Einsatz sind, verzögert sich die Abfertigung an den Sicherheitskontrollen immer noch. Auch ohne Diskussionen um flüssige Duty-free-Ware. Viele Passagiere haben ihre durchsichtigen Beutel noch nicht vollständig gepackt, andere müssen sie erst aus der Reisetasche kramen. Nur die Vielflieger halten ihre Tüten meist gut vorbereitet und rechtzeitig, nämlich vor der Durchleuchtungsmaschine, in der Hand.
„Die Geschäftsleute haben inzwischen kapiert, wie es läuft. Bei den Touristen gestaltet sich die Abfertigung nach wie vor schwierig“, sagt auch Stephan Schoor von der Sicherheitsgesellschaft SGM. Wer selten fliegt, hat zwar meist auch von den neuen Regelungen gehört, es mangelt aber an Detailwissen.
Das zeigt sich auch an diesem Tag an der Sicherheitsschleuse: Auf die Frage, ob er Flüssigkeiten dabeihabe, zieht Peter Gäbele eine volle 1,5-Liter-Flasche aus seinem Handgepäck. „Ich hatte um fünf Uhr morgens keine Lust, das Prozedere intensiver zu recherchieren“, sagt der Berliner und reibt sich die müden Augen. „Ich dachte, solange die Flasche durchsichtig ist, wird es schon gehen.“ Auch Lena Maarsen aus Schweden hat Wissenslücken: „Ich hatte davon gehört, aber nicht weiter drüber nachgedacht.“ Ihre Unaufmerksamkeit kostet sie eine 250-Milliliter-Flasche Bodylotion im Wert von 50 Euro.
Der Bann betrifft nicht nur Getränke und Cremes, die man sich noch relativ leicht als potenziellen Flüssigsprengstoff vorstellen kann. Aber wer denkt schon daran, seinen Mascara abzugeben oder dass im Labello eine gefährliche Waffe stecken könnte? Auch Frischkäse ist verboten. In Palma de Mallorca hatte man sogar Ensaimadas aus dem Flugverkehr gezogen. Das mit Pudding gefüllte Gebäck darf nach Protesten des Sicherheitskomitees des Flughafens nun wieder mit.
Ein weißhaariger Herr mit Kappe steht grinsend am Band der Sicherheitsschleuse und löffelt noch schnell seinen Joghurtbecher leer. Ein anderer Mann amüsiert sich über die engagierte Diskussion zwischen einer Kontrolleurin und einem Oberkontrolleur. Es geht um einen Ball, den er seinem Sohn mitbringen möchte, und um die Frage, ob das Spielzeug mit erlaubtem Mehl oder mit unerlaubtem Gel gefüllt ist. Am Ende entscheidet der Oberaufseher sich für Mehl – ohne den Ball aufzuschneiden. Das Spielzeug darf mit.
Bei aller Unzufriedenheit über die in ihren vielen Details kaum noch durchschaubaren EU-Flugregeln sollte man sich aber freuen, dass hier keine chinesischen Zustände herrschen. China Southern beispielsweise fordert seine Passagiere seit Kurzem nicht aus Sicherheits-, sondern aus Kostengründen dazu auf, vor Abflug die Hosentaschen zu entleeren, um das Transportgewicht zu reduzieren, und bitte schön noch am Boden die Toiletten aufzusuchen.
© Sandra Winkler
Welt am Sonntag 17. Dezember 2006
Fotos: stillsonline.de