www.sandrawinkler.de / Roher Charme / 2024-03-29 09:06:53
Der Türsteher des Hotels winkt einen Tuk-Tuk-Fahrer heran. Hektisch kommt der Mann angefahren. Auf seinem Gefährt – vorn Moped, hinten überdachte Kutsche – sitzen zwei Kinder. Sie streichen den Stoff auf der Sitzbank glatt und klettern nach vorn. Um mit dem Fahrer über den Preis der Tour zu sprechen, bleibt keine Zeit. Schon geht es hinein in den Verkehr von Kambodschas Hauptstadt Phnom Penh – ein Gewusel aus neben-, vor- und hintereinander fahrenden Mopeds, Pkw, Fahrrädern, Transportern mit vollen Ladeflächen und Tuk-Tuks. Wichtigstes Verkehrsinstrument in Phnom Penh aber ist die Hupe. Kommt jemand zu nah, wird einmal gehupt. Soll jemand Platz machen, zweimal.
Eine Kreuzung ist zunächst einmal kein Grund zu bremsen. Alle rasen aufeinander zu, wer in dem Knäuel eine Lücke findet, kämpft sich durch. Noch abenteuerlicher ist das Linksabbiegen: Ohne sich einzuordnen, fährt man auf der falschen Seite in den Verkehr hinein und versucht schlängelnd auf die rechte Straßenseite zu gelangen.
Fußgängern sollte man hier keine Lebensversicherung verkaufen. Garküchen und Gemüsestände unter Sonnenschirmen verbauen die rudimentären Gehwege. Vor uns weicht gerade eine Gruppe orange gewandeter Mönche auf die Straße aus, um sich an einem Mann vorbeizuquetschen, dem am Straßenrand die Haare geschnitten werden. Was mein Fahrer mit zweimal Hupen kommentiert. Aus der Enge der Gassen gelangen wir auf eine Kreuzung. Plötzlich Weite – und Westen. Logos von Marken wie Oakley oder Zara prangen an gläsernen Hausfassaden. Das müsste der Sihanouk Boulevard sein. Oder der Norodom Boulevard. Auf jeden Fall eine der Hauptverkehrs- adern, in denen man deutlich sieht, wie schnell die Stadt wächst.
Vor zehn Jahren war in Phnom Penh, das Nom Penn ausgesprochen wird, kein Haus über fünf Stockwerke hoch, nur zwei Straßen waren asphaltiert. Das einst reiche und hochzivilisierte Land leidet noch heute unter den Folgen von 30 Jahren Bürgerkrieg und Pol Pots Schreckensherrschaft zwischen 1975 und 1979, während der die Roten Khmer fast zwei Millionen Kambodschaner ermordeten. Die Elite des Landes wurde so gut wie ausgelöscht, um ein Volk aus Reisbauern zu schaffen. Während dieser Zeit wurde die Stadt komplett evakuiert, die Menschen trieb man aufs Land und in Arbeitslager. Viele Häuser verfielen.
Phnom Penh arbeitet daran, wieder eine Metropole zu werden. Wie ein Phönix kämpft es sich aus der Asche – auch wenn der Vogel zeitweise ein wenig flügellahm scheint. Ambitionierte Projekte wie der Bau des ersten Wolkenkratzers von koreanischen Investoren am Sihanouk Boulevard stocken. Der Gold Tower 42 soll ein glänzendes Wahrzeichen für den Aufschwung in Phnom Penh werden. Doch seit zwei Jahren herrscht Stillstand, elf Stockwerke fehlen zu den geplanten 42, weil die Bauherren Geld aus einem Pensionsfonds veruntreuten.
Und auch andere Projekte versprechen mehr, als sie wohl halten können: So ziehen chinesische Investoren am Olympiastadion (gebaut für die Southeast Asian Peninsular Games) ein Einkaufszentrum hoch. Das Schild davor kündigt Gucci und Louis Vuitton an. Dass sich solche Luxuslabel nach Phnom Penh trauen werden, ist indes unwahrscheinlich. Bislang eröffnete lediglich Mango als internationale Modemarke eine Filiale in der Stadt. Aber immerhin: Erst vor Kurzem weihte Rolls-Royce in Phnom Penh einen Showroom ein – und das neue Wahrzeichen der Stadt, der 109 Meter hohe Vattanac Tower, steht nun auch.
Der Tuk-Tuk-Fahrer hält. Wir sind am Ziel: das Büro von Tassilo Brinzer, einem Deutschen, der seit 13 Jahren in Phnom Penh lebt und stadtbekannt ist, seit er jedes Jahr in Phnom Penh das „Oktoberfest Cambodia“ auf die Beine stellt. „Wie viel?“, frage ich den Fahrer. Brinzer hatte mir am Telefon geraten, den Preis vorher zu verhandeln. Der Fahrer würde wahrscheinlich fünf Dollar fordern, drei Dollar seien aber angemessen. Ich hab’s vergessen – und bekomme die Quittung präsentiert: „Zehn Dollar“, sagt der Mann. „Ah, er will handeln“, denke ich und sage fünf. Er: „Zehn.“ Ich: „Fünf.“ Das könnten wir weiterspielen, bis die Sonne über dem Mekong unter geht, doch ich habe noch etwas anderes vor. Ich gebe ihm also den Zehner, auch wenn ich mich wie ein ausgenutzter Tourist fühle – der ich ja auch bin. Und ahne nicht, was ich mir damit einhandle. Er werde vor dem Haus warten, sagt der Fahrer. „Nein danke!“, beharre ich und verschwinde hinter einem Tor.
Nach einer halben Stunde kommen Brinzer und ich wieder heraus. Der Fahrer stürmt auf uns zu. Ich hätte doch gesagt, er solle warten. Es hilft nichts, er lässt sich nicht abwimmeln. Also wieder rein ins Tuk-Tuk: zur Uferpromenade, zu Brinzers Restaurant „La Croisette“. Nach nur wenigen Metern passieren wir ein Gebäude, vor dem ungewöhnlich viele hellhäutige Menschen mit Weingläsern in der Hand stehen.
„Das ist das Meta House, das Deutsch-Kambodschanische Kulturzentrum“, sagt Brinzer, ein Treffpunkt für internationale und lokale Künstler. Regelmäßig finden Filmabende, Konzerte und Ausstellungen statt. „Kunst ist in Phnom Penh gerade ein großes Thema.“
Wir fahren vorbei am Unabhängigkeitsdenkmal (das optisch an den Tempel Angkor Wat, inhaltlich an die Loslösung von Frankreich erinnert), dann am Königspalast mit Silberpagode, die zu den architektonischen Glanzstücken Phnom Penhs gehören. Gegenüber, auf einer Landzunge, wo Mekong und Tonle Sap zusammenfließen, wird ein neues Hotel gebaut. Eigentlich sei es ein Unding, ein so hohes Gebäude dem König vor die Nase zu setzen, hatte am Vortag eine Reiseführerin kritisiert und dann resignierend hinzugefügt: Der Bauherr habe Beziehungen zum Premierminister.
Kambodscha gehört laut der Organisation „Transparency International“ zu den korruptesten Ländern der Welt. Geschäftsleute erkaufen sich Vorteile, in- dem sie die regierende Volkspartei finanzieren. Eine ernst zu nehmende Opposition gibt es nicht. Statt Steuern zahlt man Bestechungsgeld. Wer reich genug ist, kann es schnell weit bringen.
Wir erreichen die mit Flaggen und Palmen verzierte Promenade des Tonle Sap. Auf der Straßenseite gegenüber sitzen Touristen vor alten Kolonialgebäuden, in Restaurants und Bars. Urlaubsgefühle kommen auf – die prompt zunichtegemacht werden: Der Tuk-Tuk-Fahrer fordert schon wieder zehn Dollar. Ich hatte gedacht, die ersten zehn Dollar würden auch für diese Tour gelten. Stimmt wohl nicht. „Du bist das Geschäft des Jahres für ihn.“ Brinzer lacht. So viel Geld mache der Mann sonst in einer Woche. Hilflos biete ich dem Fahrer erneut fünf Dollar an, doch er schüttelt den Kopf: „No! Ten!“ Erst als Brinzer et was auf Kambodschanisch zu ihm sagt, nimmt er meinen Schein und dreht ab.
Wir setzen uns an einen Tisch vor Brinzers Restaurant. Dass der gebürtige Baden-Badener in der Zwei-Millionen- Stadt landete, war Zufall. 2002 kam er auf einer sechsmonatigen Asienreise auch durch Phnom Penh. Ein französisches Ehepaar wollte das „La Croisette“ verkaufen, damals noch ein kleines Café mit Rattanmöbeln – und ein Schnäppchen. „Vor 13 Jahren war das hier Brachland. Es fuhren fast nur Fahrräder die Schotterpiste entlang“, erinnert sich Brinzer. Jetzt cruisen Landrover, Merce- des und Porsche Panamera an uns vor- bei. Und das gut besuchte Restaurant im Art-déco-Stil dürfte seinen Wert vervielfacht haben. „Alles bewegt sich hier ganz schnell, ist dynamisch“, sagt Brinzer und nimmt einen Schluck von seinem Weißbier. In Phnom Penh führt er inzwischen nicht nur ein Restaurant, sondern hat auch noch einen Verlag und eine Werbeagentur gegründet.
Musik wabert von der Promenade he- rüber. Morgens und abends versammeln sich Menschen um einen CD-Spieler und praktizieren eine Mischung aus Gemeinschaftstanz und Aerobic. Fitness wird in Phnom Penh immer beliebter. Man könnte meinen, mit jeder neuen Fast- Food-Filiale, die in Phnom Penh eröffnet, komme auch ein Sportstudio dazu. Bis vor ein paar Wochen besaß „Kentucky Fried Chicken“ noch das Fast- Food-Monopol in der Stadt, dann eröffnete der erste „Burger King“ am Flughafen. Eine kleine Sensation – und ein weiterer Schritt in Richtung Westen.
Trotzdem: „Kambodscha ist heute wie Thailand vor 20 Jahren und Phnom Penh Asiens große Unbekannte“, findet Brinzer. „Aber wenn man bedenkt, was man hier in den letzten Jahren aufgeholt hat, werden wir in zehn Jahren Bangkoker Verhältnisse haben.“ Wer rohen asiatischen Charme liebt, der sollte Phnom Penh also möglichst bald besuchen. Gehört Kambodschas Hauptstadt doch zu den letzten Metropolen Südostasiens, die sich ihren Kern bewahrt haben, nicht hochmodern und zugebaut sind wie etwa Singapur, Hongkong oder Kuala Lumpur.
Ich verabschiede mich. Der Zehn-Dollar-Mann ist nicht mehr da. Brinzer schlägt mir vor, statt eines Tuk-Tuk ein Moped zu nehmen, das sei günstiger – und schneller. Nach einer Pizza und zwei Gin Tonic bin ich matt und mutig genug. Helm gibt es nicht. Auch der Mann am Steuer fährt oben ohne. Ab geht es durch die Nacht, die so warm ist wie ein Luft- strahl aus dem Fön. Dazu der Fahrtwind, das dauernde Hupen, die abrupten Stopps und Starts – ich kann nicht anders. Und grinse. Geradezu hysterisch. Muss wohl das Adrenalin sein.
„You must not“, sagt der Fahrer plötzlich – und deutet auf meine Hände um seine Hüften. Sich am Vordermann fest- zuhalten gilt als Fauxpas. Ich löse also meine Finger und bestaune die Besatzung des Nachbar-Mopeds: Am Lenker ein Mann mit Schlappen an den Füßen und – natürlich – ohne Helm, hinten eine Frau mit einem Baby auf dem Arm, zwischen sich haben die Erwachsenen ein kleines Mädchen gequetscht. So würde ich meine Kinder nie transportieren! Ja, ich bin eine verweichlichte Europäerin. Und froh, als wir heil am Ziel ankommen. Einen Dollar soll ich ihm geben. Ich gebe fünf. Keine Diskussion.
© Sandra Winkler
Welt am Sonntag 23. November 2014